David-Caroline-Winter

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Ein Garten in hundert Töpfen

Platzmangel schränkt Davids und Carolines Leidenschaft für Pflanzen nicht ein – im Gegenteil.

An einem klaren und frostigen Vormittag Mitte Januar biege ich in eine schmale Sackgasse. Ich bin in einer der glamourösesten Gegenden Londons. Minuten zuvor war ich durch den geschäftigen Verkehrslärm an Harrods vorbeigeeilt. Jetzt bin ich in einer hübschen, kleinen Dorfstraße, in der sich scheinbar seit Hunderten von Jahren wenig geändert hat.

David und Caroline begrüßen mich und beginnen sofort, mir Geschichten zu erzählen: die Geschichten ihrer Pflanzen. Wir stehen auf dem Kopfsteinpflaster vor ihrer Haustür. Es ist bitterkalt, aber auch herrlich sonnig, ein perfekter Wintertag. Pflanzgefäße füllen den schmalen Streifen zwischen dem Haus und einer gelben Linie auf dem Boden. Bis zu dieser Grenze erlaubt die Stadtverwaltung, Pflanzen auf die Straße zu stellen – sie ermutigt sogar dazu. Caroline lenkt meine Aufmerksamkeit zunächst auf einen Weißdorn. Es sieht gesund aus und ist im Verhältnis zu seinem Terrakottatopf sehr groß. Vor ungefähr dreißig Jahren hat David ihn im Garten eines Freundes ausgegraben. Der Freund war kurz zuvor gestorben, Haus und Garten standen zum Verkauf. Seitdem ist der Baum mit David und Caroline von Wohnung zu Wohnung gezogen. Ich habe das Gefühl, sie würden sich nie von ihm trennen.

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Ein Alpenveilchen hat sich im Kopfsteinpflaster selbst gesät.
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Die Fassade von David and Carolines Haus in Zentrum Londons
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Der Weißdorn hat eine emotional Geschichte.

Caroline entschuldigt sich fast dafür, dass sie im Moment so wenige blühende Pflanzen haben. Nun ja, es ist Mitte Januar. Dennoch gibt es ein Wunder zu bestaunen: eine kleine Pflanze, die sich selbst gesät hat. Caroline zeigt auf den Boden und dann sehe ich sie – ein winziges rotes Alpenveilchen, das es irgendwie schafft, zwischen den Pflastersteinen zu wachsen, vollkommen gesund und zu beiden Seiten durch große Pflanzkübel geschützt.

Rechts vom Alpenveilchen steht eine Eiche. Ihre Geschichte ähnelt der des Weißdorns. Diesmal ist die Verbindung aber keine Person, sondern ein Ort. David hat den Schössling vor vier Jahrzehnten in Epping Forest gesammelt. „Weißt du, was das ist?“, fragt David und zeigt auf eine kleine rötlich-gelbe Kugel, die an einem der dünnen Zweige wächst. Wie eine Eichel sieht sie nicht aus, also – nein, ich habe keine Ahnung. David erklärt, es sei ein Gallapfel, das jetzt leere Gehäuse einer Eichengallwespe (Cynips quercusfolii). Die Insekten injizieren eine Chemikalie in das Holz, die den Baum so umprogrammiert, dass er die ideale Behausung für ihre Nachkommen ausbildet. Fast 1500 Jahre lang, bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts, wurden Galläpfel (oder Eichengallen) gesammelt und zur Herstellung von Schreibtinte verwendet.

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Die Eichengallwespe (Cynips quercusfolii) injiziert eine Chemikalie in das Holz von Eichen, die den Baum so umprogrammiert, dass er Galläpfel bildet, die ideale Behausung für die Nachkommen der Insekten.

Während ich David und Caroline die Treppe hinauf folge, frage ich mich, warum ich noch nie von Gallwespen gehört habe. Aber dann wird meine Aufmerksamkeit woanders gebraucht. Ich werde auf eine mit Pflanzen dicht gefüllte Dachterrasse geführt. Vor ungefähr 10 Jahren ist das Haus nach Davids Entwurf umgebaut worden. Die sogenannten Mews-Häuser waren ursprünglich Stallungen von Londoner Herrenhäusern mit einem Wohnbereich für den Kutscher auf der 1. Etage. Heute sind diese Objekte wegen ihrer zentralen Lage in London sehr beliebt. Aufgrund der geringen Größe will die Verwendung jedes Quadratmeters jedoch sorgfältig überlegt sein. Die Terrasse nimmt fast die Hälfte der obersten Etage ein und erstreckt sich über die gesamte Breite des Hauses. Wenn architektonische Beweise für Davids und Carolines Liebe zu Pflanzen benötigt würden, diese Terrasse wäre einer (zusammen mit den Balkonen eine Etage tiefer, aber dahin kommen wir später).

Zu beiden Seiten der Terrassentür stehen bequeme Bänke. Links und rechts davon drängen sich Töpfe mit Pflanzen – sehr vielen Pflanzen – bis an den Rand der schmalen Fläche. Weitere Gefäße bilden einen grünen Saum entlang des vorderen Geländers. Ich bemerke sofort drei klassische Tröge für alpine Pflanzen. David erklärt mir, dass sie der neueste Zugang auf der Dachterrasse sind. Er weist auf ihre Salzglasur hin, eine sehr alte Technik. Einzelheiten wie diese sind David wichtig. Zwei der Tröge beherbergen klassische Alpenpflanzen, der dritte ist abenteuerlicher bepflanzt: Kleine Olivenbäume stehen zwischen Blumenzwiebeln.

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Die linke Seite der Dachterrasse im Sonnenschein
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Die rechte Seite der Terrasse ist schattiger.
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Es gibt unterschiedliche Pflanzgefäße, alle sorgfältig ausgewählt.
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Die Tröge für alpine Pflanzen haben eine Salzlasur und kommen von der einzigen britischen Firma, die diese alte Technik noch verwendet.
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Zwiebelblumen in einem der Pflanztröge
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Ungewöhnliche Pflanzung, kleine Olivenbäume mit Zwiebelblumen darunter

Man ist hier nah an den Pflanzen. Auf Augenhöhe sind auch kleinste Details erkennbar, bemerke ich. Caroline stimmt zu und lenkt meinen Blick nach links. Ein Rosmarinstrauch hat die ersten winzigen Knospen. Sie sagt voraus, dass er bald mit Bienen bedeckt sein wird. Ich bin erstaunt, dass der Strauch mitten im Winter kurz vor der Blüte steht. Die Terrasse wirkt ungeschützt und ist nach Südosten ausgerichtet, sodass sie besonders zu dieser Jahreszeit nicht viel Sonne bekommt. Dadurch sollte es hier besonders kalt sein, ist es aber augenscheinlich nicht. In einem Pflanzkübel auf der anderen Seite zeigt Caroline mir frische Schösslinge einer Edelwicke. Im nächsten Topf sehe ich Kapuzinerkresse, sie hat sogar eine Blüte. Vielleicht ist die Lage dieser Terrasse mitten in der Großstadt London entscheidender für ihr Klima, als ich dachte.

Mittlerweile sind wir über eine Stunde draußen und ich nehme die Einladung gern an, im warmen Wohnzimmer eine Etage tiefer eine Tasse Tee zu trinken. Der Raum hat fünf kleine Balkone an der Vorderseite des Hauses – natürlich jeder voller Pflanzen. Auf einem von ihnen blühen noch Fuchsien. Auf einem anderen, in einem großen Pflanzgefäß, finde ich versteckt zwischen anderen Pflanzen die Blüte einer zierlichen Algerischen Iris (Iris unguicularis).

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Unglaublicherweise steht dort Kapuzinerkresse, mitten im Winter und sogar mit Blüte.
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Der Rosmarin steht kurz vor der Blüte – im Winter!
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Die sonnigere Seite der Dachterrasse ist voller Kräuter.

Bevor ich mich zum Tee hinsetze, bemerke ich den länglichen grünen Kegel einer Säuleneibe (Taxus baccata ‘Fastigiata’) auf einem der Balkone. Noch ein Baum. Bäume erscheinen mir eine seltsame Wahl bei so wenig Platz. Doch David und Caroline haben sehr viele: auf dem Bürgersteig, der Terrasse, den Balkonen – überall stehen Bäume. Aber dann vergesse ich, sie zu fragen, warum. Stattdessen sprechen wir über die praktischen Aspekte der Gartenarbeit. Caroline sagt, dass es hauptsächlich David ist, der sich die Finger schmutzig macht. Es ist jedoch klar, dass Caroline genauso begeistert ist. Wenig Platz schränkt David und Carolines Leidenschaft für Pflanzen nicht ein. Im Gegenteil, es scheint ihre unendliche Neugier und die geduldige Beobachtung jedes Details ihrer Pflanzen zu beflügeln.

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Auf einem Balkon in einem großen Pflanzgefäß, blüht versteckt zwischen anderen Pflanzen eine zierliche algerische Iris (Iris unguicularis).
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Fuchsien blühen noch auf einem der Balkone.
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Der längliche, grüne Kegel einer Säuleneibe (Taxus baccata ‘fastigiata’) auf einem der Balkone

Ich freue mich darauf, in ein paar Monaten wiederzukommen und zu sehen, wie sich Davids und Carolines Garten im Laufe der Jahreszeiten verändert. Und dann werde ich sie nach ihren Bäumen fragen.