Ich saß auf einer einfachen Holzbank, vor mir ein Beet voller üppiger Blattpflanzen überragt von einem Baumfarn. Dahinter erhob sich eine hölzerne Lamellenwand, die sich auf zwei Seiten um den kleinen Innenhof zog, in dem ich saß.
Um die Bank herum bildeten hohe, exakt beschnittene Eibenhecken eine Nische, der perfekte Ort für ein Gespräch mit Tom Hoblyn, dem Designer des Gartens. ‘Ich finde es extrem angenehm, an einem Ort zu sein, wo ich von Pflanzen umgeben bin’, sagte ich. Tom stimmte mir zu und erzählte, daß es ihn seit Beginn der Pandemie immer weiter von Menschen weg und hinaus die Natur zog. Mir ging es genauso.




Scharfe Strahlen frühherbstlicher Sonne beleuchteten die Szene vor uns. Farnwedel warfen feine Linien auf die grob behauenen Holzlamellen hinter ihnen. Weiter unten ragten die überdimensionierten Blätter des Tetrapanax aus dem saftigen Laub anderer Blattschmuckpflanzen. Das Beet war mit glattem, hellem Stein eingefasst, was zu der gelassenen, ruhigen Gesamtatmosphäre beitrug.
Dieser Ort fühlte sich wunderbar abgeschieden an, ein Eindruck, der allerdings kaum weiter von der Wahrheit hätte sein können. Wenn ich mich konzentrierte, konnte ich Menschen direkt hinter der hölzernen Lamellenwand stehen sehen. Dies war ein Schaugarten, und Tom und ich saßen buchstäblich in der Mitte der RHS Chelsea Flower Show 2021.




Der Garten war Teil der Kategorie „Sanctuary Gardens“, die die Organisatoren dieses Jahr neu eingeführt hatten. Ich weiß nicht, ob sie dies von langer Hand geplant hatten oder ob es eine kurzfristige Folge der Pandemie war. In jedem Fall hatte nach Monaten des Lockdowns wohl jeder die wohltuende Wirkung von Gärten verstanden. In England war nun nichts Ungewöhnliches mehr, daß man von seinem Garten als “Sanctuary” (“Zufluchtsort”) sprach.




Als ich in Toms Garten saß, mußte ich an meine Großmutter denken. Ihr Garten war ihr Zufluchtsort gewesen. Meine Großmutter hatte sehr viel Zeit im Freien verbracht, aber nie im Garten gesessen. In ihrem Nutzgarten hatte es keine Bank gegeben, nicht einmal einen Stuhl. Im Alleingang hatte sie dort das gesamte Obst und Gemüse für unseren vierköpfigen Haushalt angebaut. Im Sommer war sie Stunden vor allen anderen aufgestanden, um zu säen, zu ernten oder Unkraut zu jäten, und abends, nach dem Abendessen, war sie wieder draußen gewesen um zu gießen. Ich glaube nicht, dass meine Großmutter jemals auf die Idee gekommen wäre, dass man sich einfach in einen Garten setzen konnte, nur um ihn zu genießen.
Die Gesellschaft, in der sie aufgewachsen war, hätte dies als „Faulheit“ bezeichnet, und das wollte meine Großmutter sich nicht vorwerfen lassen. Sie wurde im Jahr 1915 geboren. Die Klosterschule lehrte sie Stricken und Häkeln statt geistiger Freiheit. Schlimmer noch: Als meine Grußmutter mit 16 Jahren schwanger wurde, verpufften alle ihre Chancen im Leben. Von da an füllte körperliche Arbeit jede Minute ihrer Tage, für ein Leben, das sie sich nicht ausgesucht hatte.

Bis ich geboren wurde, hatten sich die Lebensumstände meiner Großmutter geändert. Sie musste nicht mehr arbeiten, tat es aber trotzdem, und zwar im Garten. Der Garten war für meine Großmutter ein Ort der Freiheit. Niemand außer ihr anders interessierte sich dafür. Hier war sie alleine und konnte nach eigenem Ermessen entscheiden. Sie bestimmte, wann sie die ersten Kartoffeln erntete, welche Schnittblumen sie pflanzte und ob sie in einer dunklen Ecke des Gartenhauses mit der Zucht von Chicorée experimentieren sollte.
Offensichtliche Freude empfand meine Großmutter in dem Augenblick, in dem sie ins Haus zurückkam. Stolz füllte sie Vasen mit Blumen und bereitete köstliche Mahlzeiten aus ihrem selbstgezogenen Obst und Gemüse. Der Garten war das Reich meiner Großmutter, ihr Zufluchtsort, und die Quelle ihres Selbstbewusstseins.

PS: Nachdem ich diesen Text geschrieben hatte, suchte ich nach passenden Fotos. Ich fand kein einziges Foto von dem Nutzgarten meiner Großmutter. Dann wurde mir klar, warum. Der Anbau von Obst- und Gemüse wurde als rein zweckorientiert betrachtet. Bilder von Kohlköpfen oder Erdbeerpflanzen zu machen schien so sinnvoll wie die Waschmaschine zu fotografieren. Damals war mir nicht klar, wie absurd das war.
Erst ein Jahrzehnt nach dem Tod meiner Großmutter fotografierte ich den Bereich des Gartens, in dem sie Obst, Gemüse und Schnittblumen gezogen hatte. Zu diesem Zeitpunkt war dort längst Gras eingesät worden. Nur eine Rose, ein paar Stachelbeersträucher und ein Ableger des alten Pfirsichbaums hatten überlebt.

