Diesen Text gibt es auch auf: English (Englisch)

Die Magnolie

In den letzten sieben Jahren war die Magnolie unsere ‘geborgte Landschaft’, ein großzügiges Geschenk der Nachbarn.

„Sie fällen die Magnolie!“ Mein Engländer eilt zum Fenster, um es auch zu sehen. Zwei Gärten entfernt steht der neue Besitzer auf einer Leiter und hält eine Säge in der Hand. Ein einziger großer Ast ist noch dran. Er ist über und über mit dicken, gesunden Knospen bedeckt. In wenigen Wochen wären daraus die prächtigsten Blüten des Frühlings geworden. Nun sind sie kurz davor, entsorgt zu werden. Ich kann nicht weiter zusehen, wie der Baum gefällt wird. Es tut mir zu weh.

the magnolia
In wenigen Wochen wären aus den Knospen die prächtigsten Blüten des Frühlings geworden.

Ich denke zurück an einen Vormittag vor etwa 20 Jahren, als ich plötzlich ein beunruhigendes Geräusch hörte. Ein Blick aus dem Fenster der Wohnung in Düsseldorf, in der ich damals wohnte, bestätigte meinen Verdacht. Es war eine Motorsäge, mit der die große Buche, der einzigen Baum hinter dem Haus, gerade gefällt wurde. Wie heute konnte ich den Anblick nicht ertragen. Aber es gab kein Entrinnen, nirgendwo in der Wohnung, der Lärm war einfach zu laut. Ich erinnere mich, dass ich das Fällen stoppen wollte, mich fragte, welche Behörde ich anrufen muss, um mir bestätigen zu lassen, dass es sich um ein illegales Vorgehen handelt, denn das war es sicherlich. Ich tat es nicht. Irgendwann hörte der Lärm auf. Jedes Mal, wenn ich danach den Baumstumpf sah, wurde ich tief traurig.

Jetzt frage ich mich wieder: Soll ich hingehen und mit den Leuten sprechen, in deren Garten die Magnolie steht? Was würde ich sagen? Ist sie nicht wunderschön? Was für ein außergewöhnlicher Baum!? Ich weiß, dass es kein Gesetz gibt, das die Nachbarn davon abhält, diesen Baum zu fällen. Ich habe es überprüft, denn schon letztes Jahr, als die Bewohnerin des Hauses starb und das Grundstück verkauft wurde, war ich besorgt, dass so etwas passieren könnte. Ich recherchierte, was eine „Tree Preservation Order“ ist. Aber ich entschied mich gegen solch einen Antrag, weil ich mich letztlich nicht in anderer Leute Vorstellungen von ihren Gärten einmischen will. Und überhaupt: Ich war überzeugt, die neuen Besitzer würden sich in die Magnolie verlieben, so überwältigend schön, wie sie war.

the magnolia
Ich dachte, die neuen Besitzer würden sich sicherlich in die Magnolie verlieben, so überwältigend schön wie sie war.

Mir fällt es schwer zu verstehen, warum das nicht passiert ist. Ich versuche, mir praktische Gründe vorzustellen. Die großen Blütenblätter fallen auf den Boden und müssen je nach Untergrund von Hand entfernt werden, z. B. von Kunstrasen, der hier in der Gegend bei Familien mit kleinen Kindern sehr beliebt ist. Die Kunststoffoberfläche sieht aus wie ein perfekter Rasen, muss aber nicht gemäht werden. Diese Art von Komfort scheint viele Menschen anzusprechen. Ich kann mit einer solchen Sicht auf die Natur nichts anfangen. Aber vielleicht haben die Leute, die diesen Baum gerade fällen, eine ganz andere Motivation. Bin ich ungerecht, weil ich so wütend bin?

Es gibt natürlich triftige Gründe, einen großen Baum loszuwerden. Er dominiert einen kleinen Garten, definitiv. Er wirft Schatten, auch auf die Nachbargrundstücke, vielleicht sogar auf das Haus. Bäume saugen viel Feuchtigkeit und Nährstoffe auf und schränken ein, was unter ihnen wachsen kann. Trotzdem: Die meisten Bäume, einschließlich Magnolien, kann man beschneiden, um ihre Größe zu begrenzen. Und wenn man den Unterwuchs aus einer Gruppe von Pflanzen auswählt, die an solche Bedingungen angepasst sind, müssen die Standortbedingungen kein Nachteil sein. Ich werde wohl nie herausfinden, warum diese Familie den Baum fällt. Es ist ihre Entscheidung, ihr Garten. Was bei mir zurückbleibt, ist Bedauern und ein Gefühl der Trauer.

the magnolia
Ich werde wahrscheinlich nie herausfinden, warum diese Familie den Baum fällt. Es ist ihre Entscheidung, ihr Garten.

„Wir haben doch dasselbe getan“, sagt mein Engländer plötzlich. „Nein, haben wir nicht!“, will ich entgegnen. Dann wird mir langsam klar: Ja, es stimmt, auch wir haben zu Beginn alle vorhandenen Pflanzen ausgerissen, weil sie nicht in unsere Vorstellung von unserem Garten passten. Wir haben sogar die Nachbarn ermuntert, ihre Bäume zu stutzen, um mehr Licht zu bekommen. Insgesamt haben wir wahrscheinlich ebenso viel Biomasse vernichtet, wie diese Magnolie hat, nur dass es nicht eine einzelne Pflanze war, sondern eine ganze Reihe von ihnen. So habe ich noch nie darüber nachgedacht.

Aber wenigstens wurden die Pflanzen nicht zerstört, sondern ausgegraben und verschenkt. Sie wachsen jetzt anderswo weiter. Nur der hohe Bambus ließ sich nicht mehr verpflanzen, um ihn auszugraben, wussten wir seine Wurzeln zerschneiden. Die Überreste landeten in einem Müllcontainer, zusammen mit all dem Beton und Schutt, den die Handwerker da ausgruben, wo nun unser großes Blumenbeet ist.

Anthonys-and-mine
Wir haben zu Beginn alle Pflanzen, die hier standen, ausgerissen, weil sie nicht in unsere Vorstellung von unserem Garten paßten.

Ich gehe wieder hoch in den ersten Stock, ans Fenster. Die Magnolie ist nun komplett verschwunden. Wenn ich mir die vielen anderen Gärten ansehe – alle ordentlich durch hohe Holzzäune voneinander getrennt – frage ich mich, wie sich die Vegetation hier im Laufe der Zeit verändert hat.

Wahrscheinlich war dies Ackerland, bevor die Häuser vor etwa einem Jahrhundert gebaut wurden. Für die vielen Familien, die dann einzogen, wird es aufregend gewesen sein, einen eigenen Garten in Besitz zu nehmen, egal wie klein. Sie werden ihr kleines Stückchen Natur bepflanzt, gepflegt und genossen haben, jeder auf seine Weise. Nach ein paar Jahren werden diese Leute weggezogen sein und neue Besitzer werden gekommen sein, und bevor auch sie ihren neuen Garten bepflanzt, gepflegt und genossen haben, werden sie wahrscheinlich einige der alten Pflanzen entfernt haben.

Von diesem Fenster aus kann ich etwa 20 kleine Gärten sehen. Statistisch betrachtet, wird jeder von ihnen in den letzten 100 Jahren mindestens 10 verschiedene Besitzer gehabt haben. Dieses kleine Stückchen London, weniger als 1000 Quadratmeter groß, wurde also von 200 Familien geprägt. Ich versuche, sie mir alle auf diesem sehr begrenzten Raum vorzustellen.

the magnolia
Wenn ich mir die vielen anderen Gärten ansehe, alle ordentlich durch hohe Holzzäune voneinander getrennt, frage ich mich, wie sich die Vegetation hier im Laufe der Zeit verändert hat.

Ein paar Wochen später, Anfang März, sitze ich auf dem Sofa in der Küche. Durch die Glastüren kann ich die linke Seite unseres Gartens und den Holzzaun sehen. Zu dieser Jahreszeit steigt die Sonne hoch genug, dass ihre Strahlen das Sofa erreichen und es zu einem besonders angenehmen Ort machen. Ich ertappe mich dabei, wie ich auf einen Bereich oberhalb des Zauns starre. Dort ist nichts als Himmel. Das ist die Stelle, an der die Magnolie jetzt ihre Blüten geöffnet hätte.

the magnolia
Der Blick vom Küchensofa hat sich verändert. Die Magnolie existiert nicht mehr.

Wahrscheinlich war es eine Magnolia X soulangeana, eine Hybride aus Magnolia denudata und Magnolia liliiflora, die im 18. Jahrhundert in Frankreich entstand. Es ist eine der verbreitetsten Magnolien in England, und das aus gutem Grund. Zu Beginn des Frühlings, bevor die Blätter erscheinen, steht die gesamte Krone des Baums einige Wochen lang voll großblättriger Blüten, deren Farben von leuchtendem Weiß über zartes Rosa bis zu tiefem, dunklem Magenta reichen.

Magnolien sind faszinierende Pflanzen. Sie werden von Käfern bestäubt, denn als sich die Blüten entwickelten, gab es noch keine Bienen. Ich vermute, dass dies der Grund ist, warum ihre Staubgefäße viel robuster sind als die der meisten anderen Pflanzen. Jede Blüte hat die Eleganz einer Skulptur der Moderne.

the magnolia
Bei einem Spaziergang kamen wir heute an einer Magnolia X soulangeana vorbei. Die ersten Blüten waren kurz davor, sich zu öffnen.

In den letzten sieben Jahren war die Magnolie unsere „geborgte Landschaft“, ein großzügiges „Geschenk“ der Besitzer des Baums an die ganze Nachbarschaft. Ich versuche, nicht an den Verlust zu denken. Nach einem langen Winter erscheint jeder grüne Trieb wie ein Wunder, aber ein ganzer Baum mit Hunderten, vielleicht Tausenden von großblättrigen Blüten, das ist die eindrucksvollste Demonstration von Erneuerung. Bei einem Spaziergang kamen wir heute an einer Magnolia X soulangeana vorbei. Die ersten Blüten waren kurz davor, sich zu öffnen. In den nächsten Wochen wird es sehr schwer sein zu vergessen, dass über dem Zaun auf der linken Seite des Gartens etwas fehlt.