[Dieser Artikel erschien in Ausgabe 1/22 der Zeitschrift Let It Bloom.]
Die freundliche Dame des National Trust reichte mir einen blankpolierten Schlüssel aus massiver Bronze und wünschte mir einen schönen Tag. Der Schlüssel war so riesig, dass er eher in ein Märchen gepasst hätte als in meine Hosentasche. Überhaupt hatte dieser Morgen im September etwas Märchenhaftes. Ich war mal wieder in Sissinghurst, aber heute war alles anders. Heute war ich nicht eine der zahlreichen Besucherinnen und Besucher, die sich täglich in diesem weltberühmten Garten drängen. Heute war ich eingeladen, im Gazebo, einem kleinen Gebäude am Rand der Obstwiese, zu schreiben.
Der Gazebo ist eine achteckige Holzkonstruktion mit spitzem Dach, ein bisschen Kapelle, ein bisschen Gartenhaus. Lange Jahre stand er vergessen an dem mittelalterlichen Wassergraben, der den Garten von Sissinghurst an zwei Seiten begrenzt. Oft hatte ich mich gefragt, wie es wohl wäre, in diesem merkwürdigen kleinen Gebäude zu sitzen. Jetzt stand ich davor und hielt den Schlüssel in der Hand.
Aber der Gazebo musste noch warten. Erst einmal wollte ich in den Garten, denn die Zeit drängte. In 90 Minuten würde sich auf der anderen Seite des Anwesens das schwere, alte Eingangstor für Besucher öffnen. Bis dahin hatte ich Sissinghurst für mich allein. Das war fast noch aufregender als die Einladung in den Gazebo, denn jeder, der schon mal in Sissinghurst war, weiß, dass die Bekanntheit des Gartens zuweilen zum Problem wird. Die schmalen Wege verstopfen schnell, schließlich wurde der Garten nicht für Besuchermassen konzipiert, sondern für eine Familie.

Die aus dem Hochadel stammende Schriftstellerin Vita Sackville-West und ihr Ehemann, der Diplomat Harold Nicholson, kreierten zwischen 1930 und 1962 in Sissinghurst Castle den Archetypen des romantischen englischen Gartens. Zwischen Ruinen mittelalterlicher Gemäuer schufen sie Gartenräume voller verschwenderischer Blütenpracht.
Ein ausreichend großes Haus, in dem das Paar mit seinen beiden Söhnen hätte leben können, gab es in Sissinghurst nicht. Stattdessen bewohnte die Familie mehrere kleine Gebäudeteile, die über das Areal verstreut waren. Von der Küche ins Arbeitszimmer ging man also quer durch den Garten. Als ich jetzt über die Obstwiese auf den Turm zukam, in dem Vita ihre Romane und Gartenkolumnen geschrieben hatte, konnte ich erahnen, wie es gewesen war, hier zu leben. Für Vita und ihre Familie war der Gang durch den Garten auch an einem kühlen, bedeckten Morgen im September Alltag gewesen.
Die kleinen weiß-rosa Blüten der Spanischen Gänseblümchen umspielten die Stufen zu dem mittelalterlichen Turm. An der Wand war die mächtige gelbe Kletterrose lange verblüht, genau wie die meisten anderen Rosen, für die Sissinghurst so berühmt ist. Dafür war ich zur falschen Jahreszeit hier. Aber es gab einen Teil des Gartens, der jetzt im Spätsommer Hochsaison hatte. Und der war so neu, dass ich ihn gleich zum ersten Mal sehen würde. Zwischen hohen Eibenhecken führte mich der Weg in den Weißen Garten, vorbei an dem Tisch, von dem aus Vita, Harold und ihre Gäste so oft beim sommerlichen Abendessen das Leuchten der weißen Blüten im schwindenden Licht genossen hatten.

Und dann, hinter der nächsten Hecke, war ich plötzlich in einer Landschaft wie in Griechenland. Zwischen Felsblöcken stand ein knorriger Granatapfelbaum. In dem steinigen Boden darunter wuchsen Thymian, Lavendel und Wolfsmilch. Dahinter öffneten sich weite Steinterrassen, auf denen zwischen unzähligen mediterranen Pflanzen hier und da Reste antiker Säulen standen. Vereinzelt ragten schmale Zypressen in die Höhe. Langsam ging ich einen Schotterweg entlang, der ohne Begrenzung in die umliegenden Beete überging. Mehrere Königskerzen hatten sich darin offenbar selbst gesät. Neben ihnen fiel mir ein reich dekorierter Marmorblock auf, ein Altar aus der Antike, wie ich später lernen sollte. Das hier war Delos, der Teil von Sissinghurst, der erst kürzlich aufwändig erneuert worden war. Die Eröffnung vor wenigen Wochen war in der englischen Gartenszene als großes Ereignis gefeiert worden.



Die Inspiration für den Delos-Garten stammte von einer Reise auf die gleichnamige griechische Insel, die Vita und Harold 1935 unternommen hatten. Die karge, sonnengebleichte Flora zwischen Resten antiker Bauwerke auf den steinigen Hängen der Insel hatte die beiden fasziniert. Nach ihrer Rückkehr versuchten sie, die Landschaft in Sissinghurst nachzuempfinden – mit sehr mäßigem Erfolg. Delos blieb der einzige Gartenraum in Sissinghurst, der den berühmten Gärtnern nicht richtig gelang.
Der Misserfolg war allerdings vorprogrammiert, denn dies war Südengland, nicht Südeuropa. Es gab mehr Regen als Sonnenschein und der Boden bestand größtenteils aus schwerem Lehm, also genau dem Gegenteil dessen, was mediterrane Pflanzen benötigen. Zu allem Überfluss hatten Vita und Harold auch noch einen nach Norden abfallenden Hang hinter einer hohen Mauer für ihren mediterranen Garten ausgewählt. Über Jahrzehnte behielt der Teil von Sissinghurst zwar den Namen „Delos“, aber ich bin sicher, dass ich nicht die Einzige war, die sich fragte, was die Hasenglöckchen, Christrosen und Magnolien wohl mit einer griechischen Insel zu tun hatten.
Dann kamen 2019 die Bagger. Der National Trust, in dessen Obhut sich Sissinghurst seit Jahrzehnten befindet, wollte den alten Garten nicht einfach als Museum betreiben, sondern die Experimentierfreudigkeit, mit der Vita und Harold gegärtnert hatten, am Leben erhalten. Auf Anregung des Obergärtners Troy Scott-Smith entwickelte der Experte für naturalistische Gartengestaltung Dan Pearson einen Plan für die Erneuerung des Delos-Gartens. Als erstes wurde die gesamte Vegetation bis auf eine alte Kermeseiche mit samt dem Mutterboden entfernt. Um die Sonneneinstrahlung zu maximieren, wurden dann flache Terrassen mit Gefälle nach Süden, also entgegen der Hangneigung, angelegt. An deren tiefsten Stellen wurden Drainagen verlegt, bevor sie mit einem nährstoffarmen, wasserdurchlässigen Substrat mit hohem Kalkstein-Anteil gefüllt wurden.
Bei meinem letzten Besuch in Sissinghurst im Juni 2019 hatte ich verfolgen können, wie das Ganze durch Trockensteinmauern und schwere Felsblöcke komplettiert wurde. Das Material stammte aus einem nahegelegenen Steinbruch. Für die Pflanzenauswahl zog Dan Pearson Olivier Filippi, den Experten für mediterrane Pflanzen, hinzu. Und dann, wenige Tage nachdem Sissinghursts Gärtnerinnen und Gärtner alles gepflanzt hatten, brachte der Coronavirus die Welt zum Stillstand und die Eröffnung wurde verschoben.



Für den Garten war das ein Segen, denn alles hatte ausreichend Zeit sich zu etablieren. Jetzt, anderthalb Jahre später, erschien dieser Teil von Sissinghurst wie eine wilde, natürlich gewachsene Landschaft. Nichts wirkte künstlich. Jede Pflanze schien ihre bevorzugte Nische gefunden zu haben. Zwar gab es einige Arten, die ausgewählt worden waren, weil sie sich selbst versamen und dadurch Dynamik in den Garten bringen. Aber alles andere hier war präzise geplant. Dass es trotzdem so natürlich aussah, verriet Gartenkunst auf hohem Niveau. Delos war ein Lehrstück für die Verwendung von mediterranen Pflanzen im feucht-kühlen England.



Technisch war der Delos-Garten zweifellos brillant, aber integrierte er sich auch in den Rest von Sissinghurst und in die umliegende Landschaft? Bevor ich den neuen Garten heute zum ersten Mal sah, hatte ich meine Zweifel gehabt. Natürlich wusste ich, dass der Garten visuell nicht Teil der umliegenden Landschaft sein würde, sondern ein eigener, durch Mauern und Hecken abgetrennter Gartenraum. Aber konnte es etwas un-griechischeres geben als dunkelrote Backsteine? Jetzt stand ich am Fuß des flachen Hanges und wie auf Kommando kam die Sonne zwischen den Wolken hervor. Ich blickte auf eine südeuropäische Landschaft vor nordeuropäischen Mauern und war begeistert. Das blasse Blaugrün der mediterranen Pflanzen und das tiefe Rostrot der mittelalterlichen Gemäuer passten hervorragend zusammen. Zitronengelbe Wolfsmilchblüten und blassbeiger Kalkstein komplettierten das harmonische Bild.
Delos fügte sich so gut in seine Umgebung ein, dass man fast vergessen konnte, wie exzentrisch es war, ein Stück Griechenland mitten in der englischen Landschaft nachzubauen. Aber Delos war Garten-Theater, eine grandioses Geste voller Exotik, wahrscheinlich genau so, wie Vita und Harold es sich vorgestellt hatten.



Gesprächsfetzen rissen mich aus meinen Gedanken. Vor dem Eingang um die Ecke hatte sich eine Schlange formiert. Bald würde der Garten für Besucher öffnen; für mich also höchste Zeit, zum Gazebo zurückzueilen. Der überdimensionierte Schlüssel drehte sich fast widerstandslos im Schloss und dann stand ich auch schon mitten in dem kleinen Gebäude. Was für ein Raum! Breite Fenster gaben den Blick frei auf die Felder und Wiesen der umliegenden Landschaft. Im Vordergrund konnte ich das stille Wasser des Burggrabens sehen, an dessen anderem Ufer ein Weg entlangführte. Die Fenster bestanden aus vielen kleinen Scheiben, die mit einfachen Holzleisten zusammengehalten wurden. Außen rankte Efeu empor.
Direkt unter den Fenstern stand der Schreibtisch. Jemand hatte getrocknete Blütenstände in kleinen Vasen darauf arrangiert. Die massive Holzkonstruktion des Tisches schien mit einfachsten Werkzeugen ausgeführt zu sein. Die Nägel waren handgeschmiedet. Alles hier erweckte den Eindruck, uralt zu sein – bis auf den Schreibtischstuhl. Der war ein Schalensessel aus den 60er Jahren. Interessanterweise war der Stuhl das einzige Indiz für das wirkliche Alter des Gazebos. Vita und Harolds Söhne Nigel und Ben ließen ihn erst 1969 im Gedenken an ihren verstorbenen Vater errichten. Mit dem altertümlichen Aussehen fügte sich das Gebäude perfekt in den mittelalterlichen Kontext ein. Kurios ist allerdings, dass der Architekt dem Gazebo die exakten Maße der Apollo-11-Mondlandekapsel gab.

Der Schalensessel stammte wahrscheinlich von Nigel, der den Gazebo bis zu seinem Tod 2004 jeden Sommer zum Schreiben nutzte. Dabei setzte er die Tradition seiner Eltern fort, die in Sissinghurst eine Vielzahl von Büchern verfasst hatten, wenn sie nicht gerade gärtnerten. Normalerweise war der Gazebo dieser Tage genau wie Vitas Schreibzimmer im Turm und Harolds Arbeitszimmer im South Cottage eine Art Museum. Die Räume waren so belassen worden, wie ihre Nutzer sie einmal verlassen hatten.
Vorsichtig setzte ich mich auf den Stuhl und schob Nigels alte Schreibmaschine und einen Stapel seiner Bücher zur Seite, um Platz zu machen für meinen Laptop. Die nette Dame des National Trust hatte mir das ausdrücklich erlaubt, mich aber gebeten, die Tür offenstehen zu lassen, damit Besucher hineinsehen konnten.
Noch ein Blick aus dem Fenster auf die Wolken, die hier und da Schatten auf die Wiesen und Felder am Horizont warfen und dann begann ich meine Eindrücke aus dem Delos-Garten in den Computer zu tippen. Ich hatte noch nicht den dritten Satz zu Ende geschrieben, als ich hinter mir Stimmen hörte. „Oh, look at this!“, rief eine Frau voller Begeisterung und ihre Freundin, die nun offenbar auch an der Tür stand, pflichtete ihr bei: „Such a lovely spot to work in!“ Ich drehte mich um und lächelte verlegen, aber da waren die beiden auch schon weitergegangen. Als ich mich gerade wieder meinem Laptop zugewandt hatte, stand bereits die nächste Gruppe hinter mir. So ging es den ganzen Tag. Mit einigen Besuchern unterhielt ich mich eine Weile nett, aber irgendwann versuchte ich vor allem, mich auf mein Schreiben zu konzentrieren. Ich beschloss, mich nur noch umzudrehen, wenn mir jemand direkt eine Frage stellte. Aber alles half nichts. Ich fühlte mich wie im Zoo. Die Besucher waren freundlich, aber ihre permanente Präsenz war einfach zu störend.

Wie hatte Nigel das bloß ausgehalten? Während der drei Jahrzehnte, die er den Gazebo genutzt hatte, war der Garten wie heute öffentlich zugänglich gewesen. Auch Nigel wird daher von Gartenbesuchern gestört worden sein, wenn auch nicht so häufig, denn damals kamen weniger Besucher nach Sissinghurst. Natürlich ist es schön, bei der Arbeit hin und wieder ein paar Worte mit anderen zu wechseln. Überliefert sind Geschichten, wie Nigel Brot an Kinder verteilte, damit sie die Enten im Wassergraben füttern konnten. Aus Erzählungen von Freunden weiß ich aber auch, dass er Gartenbesuchern oft griesgrämig begegnete. Im Moment konnte ich das gut verstehen. Besonders unangenehm fand ich die Tatsache, dass die Besucher nicht vor mir, sondern hinter mir standen. Warum hatte man den Gazebo nur so merkwürdig verkehrtherum gebaut?
Irgendwann wurde mir klar, dass Nigel wahrscheinlich einfach die Tür zumachte, wenn er arbeiten wollte. Für mich war das keine Option, denn ich wollte den Gartenbesuchern natürlich nicht das Vergnügen nehmen, einen Blick ins Innere des Gazebos werfen zu können. Trotzdem zog ich die Tür nun kurz probehalber zu und als ich wieder am Schreibtisch saß, verstand ich auf einmal das eigenwillige Design des Gebäudes. Bei geschlossener Tür war ich komplett vom Garten und seinen Besucherströmen abgekapselt, denn in dieser Richtung gab es keine Fenster. Auch die Position direkt am Wassergraben war nicht nur dekorativ, sondern sorgte dafür, dass ich einen Blick in die Weite genießen konnte, ohne dass jemand nahe an meine Fenster herankam. Plötzlich war der Gazebo ein wunderbar gemütlicher Kokon, ein verwunschener Ort, an dem man in Ruhe schreiben konnte. Romantischer konnte ein Arbeitsplatz kaum sein. Sogar die Referenz zur Apollo-11-Mondlandekapsel schien nun alles andere als weit hergeholt.