Great Dixter ist einer der einflussreichsten Gärten der Welt. Er wurde Anfang des 20. Jahrhunderts im Arts & Crafts-Stil angelegt und war das lebenslange Zuhause des großen Gärtners und Gartenschriftstellers Christopher Lloyd oder Christo, wie ihn seine Freunde nannten. Seit Christos Tod wird Great Dixter von Fergus Garret geleitet. Nach wie vor ist er ein Zentrum für gärtnerische Bildung und Innovation.
Mein Engländer und ich waren in den letzten Jahren oft in Great Dixter. Als wir an diesem warmen Augusttag am Eingang stehen, weiß ich genau, welchen Teil des Gartens ich zuerst sehen möchte: den exotischen Garten natürlich, denn dies ist seine Jahreszeit.



Schnell gehe ich um das Haus herum, vorbei am ‘Sunken Garden’ und dem ständig wechselnden Arrangement von Topfpflanzen, über eine Wiese und auf ein altes Fachwerkgebäude zu. Dieser ehemalige Kuhstall begrenzt den exotischen Gartens auf einer Seite, auf den anderen Seiten umfrieden ihn Eibenhecken. Vor dem breiten Gebäude stehen Dahlienbüsche voller intensiv leuchtender Blüten. Ich gehe an ihnen vorbei, ducke mich unter einem niedrigen Balken und dann bin ich im Schuppen. Das Gebäude ist auf der anderen Seite völlig offen und gibt den Blick frei auf einen tropischen Dschungel, so dicht, dass er unendlich zu sein scheint.



Ich nehme einen der schmalen Pfade hinein in diese üppige Pflanzenvielfalt. Die riesigen Blätter der chinesischen Reispapierpflanze (Tetrapanax papyrifer ‚Rex‘) schweben wie Sonnenschirme über mir. Alle paar Schritte muss ich die stacheligen Wedel einer Palme (Trachycarpus fortunei) oder das lederartige Laub einer Fatsia japonica aus dem Weg schieben. Weit ausladende Bananenblätter (Musa basjoo) hängen wie die Ärmel einer 70er-Jahre-Tunika vor der Sonne. Ich bin komplett eingetaucht in frisches, grünes Blattwerk.
Diese reichhaltige Mischung von Pflanzen ist überwältigend. Zwischen riesigen Gräsern (Miscanthus), grau-grünem Eukalyptus und Melianthus finden sich – überraschenderweise – Koniferen. Vor vier Monaten, als wir zum letzten Mal in Great Dixter waren, standen diese seltsam geformten, immergrünen Nadelbäume hier fast alleine. Jetzt sind sie vom frischen Wuchs anderer Pflanzen überwuchert. Ich beuge mich hinunter zu einem Muehlenbeckia-Strauch. Seine winzige Blättchen sitzen tief in einer molekular anmutenden Struktur aus dünnen Zweigen. Als ich mich aufrichte, spüre ich das Kitzeln eines Baumfarns (Dicksonia antarctica) in Gesicht. Ich gehe weiter. Irgendwann verliere ich fast die Orientierung in dieser üppigen Vegetation.





Vor 1992 hätte ich solche Schwierigkeiten nicht gehabt, denn dies war ein klassischer Rosengarten, entworfen von dem Architekten Edwin Lutyens. Dann riss Christopher Lloyd zusammen mit seinem Obergärtner Fergus Garrett die Rosen aus. Ein Aufschrei der Empörung ging durch das englische Gartenestablishment. Welcher Frefel am Gartenerbes der Eltern! Aber Christo und Fergus war das egal; sie wollten etwas Neues ausprobieren. Nach und nach waren auch die Kritiker beeindruckt.
Dieser Geist der Veränderung ist in Great Dixter auch heute noch sehr lebendig. Die Dahlien, die jetzt vor dem Kuhstall stehen, waren jahrelang hier im exotischen Garten. Derzeit konzentriert sich die Gestaltung auf Grün. Dies erinnert ganz nebenbei daran, daß was willkürlich aussieht, doch sorgfältig ausgewählt, gepflanzt und gepflegt wurde.



Am Ende des Rundgangs durch den exotischen Garten komme ich zurück in den Kuhstall. Nachdem sich meine Augen an den Schatten gewöhnt haben, sehe ich eine Bank in der Nähe der hinteren Wand. Ihre Konstruktion könnte nicht einfacher sein. Als ich mich setze, bemerke ich ihre Stabilität. Vor mir ist die exotische Fülle der Vegetation, im Cinemascope, eingerahmt von den krummen Holzbalken des Schuppens und großen, unebenen Steinplatten auf dem Boden. Die Materialien des Gebäudes wurden nur soweit bearbeitet wie unbedingt notwendig, Gebrauchsspuren sind überall sichtbar. In dieser mit viel Sorgfalt kultivierten, spartanischen Einfachheit fühle ich mich wie in einem buddhistischen Tempel in Japan, angenehm behütet, meditativ. Der perfekte Ort, um die Schönheit der Natur zu betrachten.
Später, als ich mit meinem Engländer die berühmte ‘Long Border’ entlanggehe, sehe ich den exotischen Garten von weitem. Er ist klein, überraschend klein. Doch im Inneren fühlt er sich grenzenlos an.

