Die oberste Kiesschicht hat lineare Vertiefungen, die parallel zur langen Seite der großen rechteckigen Fläche verlaufen. Wenn ich diagonal darauf blicke, schärft die tiefstehende Morgensonne jede dieser flachen Einbuchtungen mit einer dunklen Schattenlinie. Wenn ich geradeaus schaue, löst sich das Muster auf. Stattdessen werden einzelne Steinchen hervorgehoben. Ihre Formen sind bemerkenswert, unregelmäßig wie Split, aber mit gerundeten Kanten. Möglicherweise sind sie im Laufe der Jahrhunderte durch das immer wieder neue Harken des Rillenmusters geglättet worden.
Es ist sehr still. Nichts bewegt sich. Die Präzision dieses höchst fragilen Arrangements ist atemberaubend. Es ist der Ausdruck einer einfachen Idee voll unendlicher Variation. Dies ist der berühmteste Zen-Garten der Welt – Ryoan-ji.


Von den vielen UNESCO-Weltkulturerbestätten Kyotos ist Ryoan-ji wahrscheinlich die bekannteste. Eine Besichtigung ist praktisch ein Muss für jeden Touristen, der nach Japan kommt. Leider enden fast alle Berichte über einen Besuch des Ryoan-ji mit „aber es war viel zu voll“. Einige fügen hinzu, dass es in der Nebensaison, z. B. im Oktober, wenn es keine Kirschblüten oder bunten Ahornblätter zu bewundern gibt, tendenziell etwas ruhiger ist. Und wenn man früh am Morgen kommt, könnte auch das helfen. Andere sind weniger optimistisch und raten, Ryoan-ji ganz auszulassen.
Mein Engländer und ich waren wegen der Gärten in Japan. Einfach an Ryoan-ji vorbeizugehen, erschien uns nicht richtig. Um 7:30 Uhr an diesem klaren Oktobermorgen kamen wir einen Hang hinauf, vorbei an einer Reihe von verschlossenen hölzernen Verkaufsständen, um vor dem ebenso verschlossenen Kassenhäuschen und einem beeindruckend großen Holztor anzukommen, das ebenfalls zu war. Der Platz vor dem Kassenhäuschen lag im Schatten niedriger Ahornbäume. Zwischen diesem Gebäude, dem Tor und den Bäumen blieb nur wenig Platz für Sonne. Wir standen in ihren wärmenden Strahlen und warteten, ganz allein.



Eine Frau erschien und schlüpfte schnell durch eine kleine Holztür neben dem geschlossenen Tor. Dann waren wir wieder allein. Minuten später kam eine weitere Person den Hang hinauf und ging durch die kleine Tür, wobei sie sie in fast vollkommener Stille öffnete und schloss. Nach einer Weile war Bewegung im Inneren des Kassenhäuschens zu spüren. Ein Rollo wurde langsam hochgezogen. Um 7:45 Uhr kam eine Frau mit einem Reisigbesen und einer langstieligen Kehrschaufel heraus und begann zu fegen. Es schien, als werde uns gerade Einblick in eine Art von Dorfleben gewährt.
Der Boden war teilweise mit grob behauenen Gehwegplatten und Kopfsteinpflaster befestigt, teilweise mit losem dunklem Kies bedeckt. Er war perfekt sauber, so sauber wie ein solcher Boden im Freien nur sein kann. Dennoch fegte die Frau in einem langsamen und gleichmäßigen Rhythmus jeden Millimeter, bevor sie wieder im Innern des Kassenhäuschens verschwand.
Als sie das nächste Mal herauskam, öffnete sie das schwere Holztor und erlaubte uns so den Blick auf einen breiten, von weiteren Bäumen beschatteten Weg, der zu den Hauptgebäuden des Tempels führte. Zurück im Kassenhäuschen, öffnete die Frau das Fenster und mit der gleichen gemessenen Geschwindigkeit, mit der sie den Boden gefegt hatte, ordnete sie mehrere Gegenstände an, bis sie uns schließlich ein Zeichen gab, dass sie nun bereit war, uns zu bedienen.
Um 8:04 Uhr standen wir vor dem weltberühmten Zen-Garten, allein. Sein Bild ist so bekannt, dass es fast eine Art Schock ist, ihn „live“ zu sehen – wie einer berühmten Person die Hand zu schütteln. Ich hatte gelesen, Ryoan-ji sei klein. Möglicherweise hatte ich deshalb winzige Ausmaße erwartet. Jetzt, wo ich davor stand, fühlte sich der Garten geräumig an. Er war ungefähr so groß wie mein eigener Garten in Düsseldorf, mit etwa gleich hohen Mauern. Der Platz hätte gereicht, um mit ausgestreckten Armen zu tanzen – oder als Picknickareal für zwanzig Leute, von denen jeder seine eigene Decke hätte ausbreiten können. Aber natürlich war Ryoan-ji nur zu besichtigen, nicht zu betreten.

Die Besichtigung erfolgt von dem direkt an den Garten angrenzenden Gebäude aus. Der Innenbereich dieser offenen Holzkonstruktion ist mit Schiebetüren ausgestattet, die als variable Wände fungieren und es ermöglichen, den Raum komplett zum Garten hin zu öffnen. Ein überdachter Gehweg umgibt das gesamte Gebäude. Auf der dem Garten zugewandten Seite verbreitert sich der Steg zu einer Aussichtsplattform mit Sitzstufen.



Ich gehe fast bis ans Ende des Stegs, zu dem Teil, der schon in der Sonne liegt, und setze mich hin. Es ist ruhig. Die milden Strahlen der Spätsommersonne fühlen sich angenehm warm an. Mein Kopf ist im Schatten einer breiten Dachkonstruktion. So kann ich die Sonne an diesem kühlen Morgen genießen, ohne von ihr geblendet zu werden. Ich frage mich, ob jemand das beim Bau des Tempels bedacht hat.
Ryoan-ji ist eine Herausforderung für die Definition eines Gartens. Es ist ein mit Steinen gefüllter Innenhof. Er enthält keine Pflanzen, abgesehen von ein bisschen Moos. Wie ein Hauch von Grün hat es sich in Ringen um ein paar Felsbrocken gelegt, die aus der gleichmäßigen Kiesschicht herausragen.
Die Felsbrocken sind groß, einige wahrscheinlich mehr als einen Meter im Durchmesser. Nur ein kleines Stück ragt heraus, zum Großteil bleiben sie unsichtbar, versunken im Boden. Das Moos wächst dort, wo die Felsblöcke die flache Kiesschicht durchstoßen. Ihre abgerundete Form kollidiert mit dem Muster der geraden Linien im Kies. Der eigentliche Schnittpunkt von Kreis und Linie ist in das Kiesmuster verlegt. Dort ersetzen konzentrische Ringe um die Felsblöcke die parallelen Linien. Damit ist die heikelste aller geometrischen Kombinationen elegant gelöst.



Eine Schulklasse kommt an. Die Kinder sind wohlerzogen wie es alle Schulkinder in Japan zu sein scheinen, und setzen sich schnell auf die Stufe neben mir. Offenbar haben sie eine Aufgabe bekommen, denn alle zeigen aufgeregt auf den Garten und zählen gleichzeitig mit den Fingern. Dann steht die erste Gruppe auf, läuft nach links und rechts, zählt ständig und zeigt auf verschiedene Gruppen von Felsblöcken im Garten. Ohne ein Wort zu verstehen, weiß ich, dass sie das wohl bekannteste Kennzeichen des Ryoan-ji testen sollen: Der Garten enthält 15 Felsblöcke, aber von keinem Punkt sind alle gleichzeitig zu sehen.



Die Felsblöcke scheinen naturbelassen zu sein. Einige haben blasse pfirsichfarbene Flecken mit dunkelbraunen Streifen, andere sind bläulich mit ausgeprägten weißen Linien. Je länger ich schaue, desto leichter fällt es mir, Schluchten und Steilwände zu sehen, die Felsblöcke als riesige Klippen wahrzunehmen, als Berge, die von dichten Wäldern umgeben sind statt von einer dünnen Moosschicht. Der ganze Garten wird zum Meer, die Rillen im Kies zu Wellen, die die Felseninseln umspülen. Ich muss diese Interpretation irgendwo gelesen haben. Seitdem ist es das, was ich sehe. Und selbst wenn ich versuche, diese Assoziation zu verdrängen, springt sie schnell wieder in den Vordergrund.
Ich frage mich, ob ich hier jetzt Inseln und Wasser sehen würde, wenn ich nie davon gehört hätte. Vielleicht. Was ich allerdings überhaupt nicht sehen kann, ist eine Tigerin, die ihre Jungen über das Meer trägt – eine andere häufig genannte Interpretation. Hätte mir hingegen jemand gesagt, dass dieses Muster aus Kies einem Schlingenflorteppich nachempfunden sei, hätte ich das wahrscheinlich sofort geglaubt. Die Art und Weise, wie die gewebten Reihen von der Seite deutlich sichtbar sind, aber bei frontaler Betrachtung fast verschwinden, der Kies, der die natürliche Variation von Wolle in Dicke und Farbe nachahmt, das passt alles.



Die Teppich-Assoziation ist natürlich absurd, während die Wasser-Interpretation plausibel erscheint. Aber ich kann nicht mit Sicherheit wissen, was dieser Garten bedeutet, nicht einmal, ob seine Interpretation willkürlich ist. Seit Jahren lese ich mit Interesse über Geomantie, Tuschemalerei und die Konzepte von Wabi und Sabi, recherchiere die Bedeutung von Steinen sowohl in der chinesischen als auch in der japanischen Tradition, bin fasziniert von miniaturisierten Landschaften, Shinto-Symbolik und Zen-Praktiken – doch all das macht nicht wett, dass ich nicht in der Kultur aufgewachsen bin, aus der dieser Garten erwachsen ist. Wie ein Bild in einem fremdsprachigen Buch ist Ryoan-ji faszinierend anzusehen, doch ich frage mich ständig, was wohl in dem erklärenden Text daneben steht, den ich nicht lesen kann.
Aber vielleicht muss ich nicht jede Konnotation verstehen, um diesen Ort schätzen zu können. Ich sitze leicht erhöht, habe einen freien Blick auf das 25 x 15 Meter große Kiesrechteck. Die umliegenden Mauern, dick, aus Stampflehm und mit dunklen Schindeldächern versehen, wirken fast wehrhaft. Sie sind so hoch, dass ich selbst von dieser erhöhten Plattform aus nicht sehen kann, was draußen vor sich geht. Aber sie sind niedrig genug und weit genug entfernt, um nicht einschränkend zu wirken. Im Gegenteil, ich fühle mich angenehm beschützt und ermutigt, über die Mauern hinauszuschauen.
Der Garten ist von Bäumen umgeben. Ein großer Kirschbaum lehnt zentral über einer Mauer, Ahornbäume umgeben ihn. Dahinter erhebt sich eine Reihe hoher Kiefern. Dieses üppige Grün kontrastiert mit der visuellen Strenge des Trockengartens. Er ist das ruhige, erdende Gegengewicht für das Leben jenseits der Mauern.



Die Stufe, auf der ich sitze, besteht aus einer Reihe von Holzdielen. Eher der tägliche Gebrauch als eine Lackierung scheint ihnen ihre angenehm weiche Oberfläche gegeben zu haben. Meine schuhlosen Füße ruhen auf der Stufe darunter. Sie hat die ideale Höhe für eine entspannte Haltung. Obwohl dieser Sitz kaum minimalistischer sein könnte, ist er erstaunlich bequem. Überhaupt fühlt sich der Ort überaus angenehm an. Es herrscht ein Gefühl der Ruhe. Sie basiert auf kompletter Ordnung. Der erforderliche Zwang wird durch eine Ehrfurcht vor natürlichen Materialien, vor der Natur ausgeglichen. Ich könnte hier stundenlang sitzen.



Es ist jetzt 8:45 Uhr und die Aussichtsplattform füllt sich. Am Eingang erklärt ein Reiseleiter einer Gruppe von Besuchern, die um einen kleinen Tisch mit einer bizarren Miniversion des Ryoan-ji versammelt sind, das 15-Felsen-Phänomen. Mein Engländer und ich sind uns einig, dass wir Glück hatten, den echten Garten für uns allein gehabt zu haben, zumindest für kurze Zeit.