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Eine Reise zu den Gärten Japans

Solange ich mich erinnern konnte, hatten mich die geheimnisvollen Gärten Japans fasziniert.

Heute vor genau einem Jahr kamen mein Engländer und ich in Japan an. Wir waren wegen der Gärten gekommen. In den darauffolgenden drei Wochen besuchten wir so viele, wie wir nur konnten. Es war herrlich!

Für uns beide war dies unsere erste Reise nach Japan. Wir hatten jahrelang mit dem Gedanken gespielt, aber immer wieder war etwas dazwischen gekommen. Dann, Anfang 2019, buchten wir Flüge für Oktober. Die Vorfreude war groß, doch ein paar Wochen vor unserer Abreise wollte ich fast zuhause bleiben.

Solange ich mich erinnern konnte, hatten mich die geheimnisvollen Gärten Japans fasziniert. Sie selbst zu sehen würde aufregend sein, aber würde ich sie auch begreifen können? Mein Interesse an der Geschichte europäischer Gärten hatte mich gelehrt, dass kultureller Kontext wesentlich war für ihr Verständnis. Da sich die japanische Kultur so sehr von der europäischen unterschied, wollte ich mir im Vorfeld unserer Reise so viel Wissen wie möglich aneignen.

Beim Abflug hatte ich das Gefühl, immer noch nicht genug recherchiert zu haben. Mehrere einschlägige Bücher blieben zuhause zurück, ungelesen, und die Gartennamen auf meiner Liste waren so kompliziert, dass es mir schwer fiel, sie überhaupt auseinanderzuhalten. Im Nachhinein stellte sich allerdings heraus, daß die Vorbereitung gar nicht so schlecht war. Die einzigen Gärten, bei denen es mir wirklich leid tut sie verpaßt zu haben, sind die wahrscheinlich sehenswerten Samurai-Gärten in Kanazawa. Ich las erst später über sie. Aber durch gute Vorbereitung gelang es uns, trotz der komplizierten Reservierungsverfahren, Zutritt zu dem berühmten Moostempel-Garten und zu allen kaiserlichen Palastgärten zu erlangen. Und zusätzlich zu den vielen andern Gärten auf der Liste fanden wir diverse versteckte, unbekannte und überraschend beeindruckende im Vorbeigehen.

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Saiho-ji Tempel, Kyoto

Als wir mit der Planung unserer Reise begannen, sagte mein Engländer: „Wäre es nicht schön, wie Henry James zu reisen?” Damals las er gerade seine Biographie, in der ausführlich beschrieben wird, dass der Autor während seiner Reisen mehrere Monate an jedem Ort verweilte. Angepaßt an das 21. Jahrhundert entschieden wir uns für zwei Wochen in Kyoto mit ein paar Tagen in Tokio davor und danach.

Dies mag nicht besonders radikal erscheinen, aber alle anderen Touristen schienen sich genötigt zu fühlen, die Vorteile des hocheffizienten Eisenbahnsystems, das es ermöglicht, in wenigen Tagen jeden Winkel dieses ziemlich großen Landes zu sehen, voll auszuschöpfen. Besagte Züge erlaubten uns zwar auch einige Tagesausflüge, aber im Allgemeinen beglückwünschten wir uns immer wieder dazu, dass wir uns für den Henry-James-Ansatz entschieden hatten. Es gab so viele interessante Gärten in und um Kyoto herum, dass wir dort ohne Schwierigkeiten noch viele Wochen hätten verbringen können.

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Nihonbashi, Tokio

Aber unser erster Eindruck von Japan war Tokio. Der Bus vom Flughafen setzte uns in der 2. (oder war es die 3.?) Etage des Busbahnhofs ab. Er war innen in den komplizierten Knoten eines 6- oder 7-stöckigen Hochstraßen-Systems gebaut war. Als wir aus dem Gebäude traten fanden wir uns in einer sauber geputzte Stadtlandschaft, die ganz und gar aus winkelgenau gegossenem, beigen und hellgrauen Beton zu bestehen schien. Die Häuser waren hoch und schlank mit merkwürdig schmalen Zwischenräumen, vermutlich wegen der Erdbeben. Es sah alles aus wie eine sehr aufgeräumte Spielzeug-Version von Manhattan. Jeder, der uns auf der Straße begegnete, trug ordentlich gebügelte Kleidung in Weiß-, Grau- oder Schwarztönen. Das Grün der Bäume stach aus diesem farblosen Hintergrund hervor. Es gab nicht viele von ihnen, aber ausnahmslos jeder Baum war geschickt beschnitten und sah aus wie ein überdimensionaler Bonsai am Straßenrand.

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Katsura kaiserliche Villa, Kyoto

Das Wetter war angenehm warm und die Sonne kam ab und zu heraus, genau so, das wir das erwartet hatten. Jeder, der das Land kannte, hatte uns gesagt, dass Oktober eine großartige Zeit sei, um Japan zu besuchen. Der Sommer sei zu heiß, der Winter zu kalt und der Frühling wegen der Kirschblüte zu überfüllt. Der Oktober mit seinen milden Temperaturen sei ideal und die Touristenmassen würden nicht vor November zurückkehren, wenn die Ahorn auf der Hauptinsel Honshu die Farbe wechselt.

Am nächsten Tag trafen wir eine Freundin, die in Tokio lebt, zu süßer Bohnenpaste mit eingelegtem Obst in einem traditionellen Café. Wir saßen auf einer Art Kindergartenmöbel (ein klarer Beweis dafür, dass wir alle zu groß waren für das traditionelle Japan), als sie beiläufig den Taifun erwähnte. Welcher Taifun? Nun, anscheinend war Taifunsaison. Sie sei besorgt, dass der herannahende Taifun, genannt „Hagibis“, schwerer sein könnte, als die Taifune, die jedes Jahr um diese Zeit in Tokio wüten. Sie hatte von der deutschen Botschaft eine Warnung erhalten, etwas, was sie in zwei Jahrzehnten in Tokio noch nie erlebt hatte. Die japanischen Medien nannten ihn einen ‘Super-Taifun’. Unsere Freundin erzählte uns, dass ein Taifun normalerweise hauptsächlich aus sehr, sehr starkem Regen bestehe. Nichts, worüber man sich allzu viele Sorgen machen müsse. Wir könnten nur nicht draußen herumlaufen und müssten unsere Gartenbesuche für ein paar Tage unterbrechen.

Plötzlich schien der Oktober keine so gute Reisezeit mehr zu sein. Wir verbrachten den Abend damit, uns online Karten anzuschauen, die den wahrscheinlichen Verlauf von ‚Hagibis‘ beschrieben. Uns wurde schnell klar, dass unsere geplante Zugfahrt nach Kyoto zwei Tage später genau auf dem Weg des Sturms liegen würde.

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Ryōan-ji Tempel, Kyoto

Also beschlossen wir, zu versuchen, dem Taifun zu entkommen. Am nächsten Morgen gelang es uns mit etwas Glück, Plätze in einem der letzten Hochgeschwindigkeitszüge zu bekommen, die Tokio verließen, bevor der Verkehr in Richtung Südwesten eingestellt wurde. Als wir in Kyoto ankamen, begann es zu regnen. Während der nächsten 36 Stunden goss es in Strömen. In seiner Intensität fühlte sich der Regen an wie in den Tropen. Und dies waren nur die Ausläufer von ‚Hagibis‘. Anderswo in Japan wurden Züge und Gebäude durch riesige Überschwemmungen zerstört, und selbst die auf so etwas perfekt vorbereitete japanische Gesellschaft kam kurzzeitig zum Stillstand.

Diese unerwartete Begegnung mit einem Taifun erinnerte uns an etwas, dessen Existenz wir in Europa oft vergessen, was in Japan aber zum Alltag gehört: die Gewalt der Natur. So viele Aspekte der japanischen Kultur wurden von ihr geprägt, nicht zuletzt die Gärten. Ich hatte vor längerer Zeit darüber gelesen, konnte es aber erst jetzt nachvollziehen.

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Korakuen Garten, Okayama

Eigentlich wollte ich über diese Japanreise kurz nach meiner Rückkehr schreiben, genau wie ich beabsichtigt hatte, während unseres gesamten Aufenthalts ein Tagebuch zu führen. Beides ist nicht geschehen, doch ich frage mich, ob das vielleicht sogar von Vorteil ist. Zeit selektiert Erinnerungen, hilft Verbindungen herzustellen und extrahiert Bedeutung aus der reinen Wahrnehmung. Vielleicht bin ich jetzt, ein Jahr später, sogar besser dazu in der Lage, über diese fremde Kultur und ihre Gärten zu schreiben und vielleicht sogar etwas davon zu verstehen.