“Unser Garten sieht im Moment ein bisschen ‚müde‘ aus, also erwarte nicht zu viel”, schreibt Joanna. Sie und ihre Mutter Pam freuen sich auf meinen Besuch, sind aber besorgt, dass ich von ihrem Garten enttäuscht sein könnte. Ich versuche zu protestieren, zu erklären, dass ich mich für ihre Beziehung zu ihrem Garten interessiere und es mir nichts ausmacht, wenn gerade nicht so viel blüht, aber das klingt fast wie eine Beleidigung, also halte ich den Mund.
Die schmale Landstraße wird zu einem grünen Tunnel. Sonnenstrahlen funkeln zwischen den Blättern. Hin und wieder wird der Blick frei auf sanfte Hügel und Bilderbuch-Dörfchen. Hier im High Weald in Kent ist England besonders idyllisch.
Pam und Johanna warten schon im Vorgarten. Für uns alle ist es der erste Sozialkontakt seit dem Beginn des Corona-Lockdowns. Die Begrüßung ist sehr freundlich aber zuerst etwas unbeholfen, denn wir sind sehr darauf bedacht, die hierzulande geltende 2 Meter Abstandsregel einzuhalten. Dann geht Joanna vor, am Haus entlang in den Garten.
Als ich den ersten Blick um die Ecke werfe, bin ich komplett überwältigt. Wie ein weites Amphitheater wölbt sich ein Steingarten um die Terrasse an der Rückseite des Hauses. Das Grundstück liegt an einem Hang, der hier in zwei mannshohen Stufen terrassiert ist, die seitlich von großen, naturalistisch platzierten Felsbrocken gehalten werden.



Aus den Spalten wächst eine überwältigende Vielfalt von Pflanzen. Zwischen Heidekraut und Cotoneaster ist eine Fülle von Farben und Texturen zu sehen: Fuchsien und Begonien und Nelken und Geranien und Lilien und Azaleen und viele, viele andere – ich weiß gar nicht, wo ich zuerst hinsehen soll. Und das ist noch nicht alles. Hoch über dem Steingarten erhebt sich eine hölzerne Pergola, eine zusätzliche Ebene für die Präsentation von noch mehr Pflanzen. Geißblatt, Clematis und andere Kletterpflanzen wachsen die Pfähle hinauf, Körbe voller farbenfroher Blühpflanzen hängen an den horizontalen Verstrebungen. Das ist eine Pflanzenschau dramatischen Ausmaßes.
Im unteren Teil fällt mir eine Azalee auf (eine japanische Mini-Azalee, wie Pam mir erklärt), die vollständig mit orange/rosa Blüten bedeckt ist. Die Blütezeit anderer Azaleen weiter oben ist allerdings schon vorbei, und dasselbe gilt für weitere Pflanzen im Garten. Das ist es, was Joanna mit ‘müde‘ meinte und sie hat Recht, es ist schade, dass ich nicht zur besten Zeit hier bin. Dennoch, die großartige Struktur in Kombination mit den verschiedenen Blattformen ist spektakulär – auch mit weniger Blüten.
Es ist ein heißer Tag, eher wie Mitte August als Anfang Juni. Pam hat Tee und Kekse auf dem Tisch unten auf der Terrasse bereitgestellt. Gerne setze ich mich ein wenig in den Schatten. Hier ist der perfekte Platz, um den Steingarten zu genießen. Mit dem Rücken zur Hauswand sitzend fühle ich mich angenehm geschützt und genieße den Garten vor mir. Mein ganzes Blickfeld ist voller Pflanzen, dies ist ein Garten in Cinemascope.



Der Steingarten ist alt, aber perfekt gepflegt. Als Pam und ihr Mann John das Haus in den späten sechziger Jahren erwarben, war es gerade in einen steilen, nach Süden ausgerichteten Hang gebaut worden. Die Nivellierung des Geländes hatte direkt hinter dem Haus einen besonders steilen Hang hinterlassen. Als Pam mit Joanna schwanger war, kam sie nicht mehr in den höher gelegenen Teil des Gartens, um die Wäsche aufzuhängen. Also wurde für sie eine Treppe in den Hang geschnitten, das erste Stück Landschaftsbau.
Dann wurde Joanna geboren. Als Pam nach zwei Wochen Krankenhausaufenthalt mit ihr nach Hause kam, war der Garten komplett verwandelt. Unter Johns Regie waren aus dem steilen Erdwall weit ausladende Terrassen geworden. Als Pam mir die Geschichte erzählt, spürt man, wie gerührt sie damals gewesen sein muss. Was Pam in ihrer Erzählung ausläßt ist, daß vor allem sie es war, die den Steingarten danach so meisterhaft mit Pflanzen füllte und ihn jahrzehntelang pflegte.
Ich trinke meinen Tee und während ich noch immer damit beschäftigt bin, das Gesamtbild des Steingartens in mich aufzunehmen, macht Joanna mich auf Details aufmerksam. “Die Blumenkörbe sind das Ergebnis des Lockdowns,” sagt sie. In den Vorjahren hatte sie nie Zeit, sie zu bepflanzen. Aber in den letzten Wochen und Monate hat sie viel Zeit draußen verbracht. Der Garten ist harte Arbeit, und mittlerweile hat Joanna den größten Teil davon übernommen. Pam ist zwar außerordentlich fit, aber in den Steingarten zu klettern ist dann doch zu schwierig für sie geworden. “Hier am Hang zu gärtnern ist wie bergsteigen,” sagt Joanna.
Pam ist nach wie vor eine begeisterte Gärtnerin. Entlang der seitlichen Hauswand baut sie Gemüse an und natürlich hat sie noch immer großen Einfluß auf den ganzen Garten, kennt jede Pflanze genau. Sie zeigt mir Heidekraut, das so alt ist wie der Garten. Mit viel Sorgfalt hat sie die Pflanzen immer wieder beschnitten, sodaß man ihnen ihr Alter nicht ansieht. In einem Beet sehe ich längliche, absterbende Blätter. Pam erklärt, dass dies kein Zeichen schlampigen Gärtnerns sei, sondern die Ruhezeit einer Jersey-Lilly (Amaryllis belladonna). Sie weist noch extra darauf hin, dass sie nach der in den 30er Jahren bekannten Schauspielerin Lillie Langtree benannt ist. Ich hatte gedacht, es sei eine Nerine bowdenii, aber nein, nur das Wachstumsmuster ist ähnlich. Die Blätter erscheinen im beginnenden Frühjahr und die Blüten im November – ohne Blätter.


Und dann ist da noch der Swimmingpool. Wieder war es John, der ihn anlegen ließ. Damals arbeitete er für eine Firma, die Außenschwimmbäder baute. Rechts vom Steingarten ließ er ein Becken beachtlicher Größe in den Hang graben. Während Pam auf die massive Stützmauer zeigt, versuche ich mir die aufwendigen Bauarbeiten vorzustellen. Der Pool wird seit Jahren nicht mehr benutzt und ist mit Holzplanken zugedeckt, aber er muss einmal wahnsinnig glamourös gewesen sein – und ein Riesenspaß für Joanna und ihre Schwester Briony.
“Der ganze Garten hat sich selbst gestaltet,” sagt Pam und geht die Treppe hinauf, die vor all den Jahren für sie gebaut wurde. Oben angekommen verstehe ich, was sie meint. Diese schwierige Hanglage verlangte nach dem Halt des Steingartens.
Jetzt stehen wir über dem Steingarten, am Rand einer Rasenfläche. Aus der Tiefe kommend fühlt sich der Garten hier plötzlich weit und offen an, was aber nicht unangenehm ist. Durch Bäume und Sträucher ist auch dieser Teil des Gartens vor den Blicken der Nachbarn geschützt. Kaum zu glauben, daß das Zentrum des Dorfes weniger als 100 Meter entfernt liegt.

Pam geht zurück ins Haus während Joanna und ich weiter den Hang hinaufgehen. Über eine weitere Steintreppe gelangen wir auf die höchste Terrassenstufe des Gartens. Eine alte Backsteinmauer bildet hier die Grundstücksgrenze und davor, in der äußersten Ecke, steht eine Bank unter einer von Klematis und Kletterrosen überwachsenen Laube. In einem schmalen Beet davor mischen sich die kleinen rosa Blüten von Alpen-Nelken und Grasnelken. Eine steinerne Skulptur vervollständigt die romantische Szene. Die Katze ist uns gefolgt und legt sich auf die Bank, als wolle sie zeigen, wie entspannend es hier ist.



Dieser Teil des Gartens ist Joannas Domäne. Vor vielen Jahren begann alles mit dem winzigen Setzling eines Lebensbaum (Thuja), aus dem mittlerweile ein stattlicher Baum geworden ist. Aber Joannas wahre Liebe gilt Gräsern. Nach und nach hat sie immer mehr davon gepflanzt. Jetzt dominieren Gräser die Rabatten hier. Sie passen gut zu hohen, weißen Alliums. Ihre neueste Ergänzung ist Federgras (Stipa tenuissima). Sie hat die zarten Halme neben die zierlichen rosa Blüten gepflanzt.
Hier experimentiert Joanna, entwickelt ihre eigene Art zu gärtnern. Ihr Ansatz ist sanft. Sie lässt jeder Pflanze ihre Freiheit und beobachtet, bevor sie sich einmischt. Zu Beginn der Saison beschloß sie, einen Teil des Rasens einfach wachsen zu lassen. Jetzt genießt sie die zarten Blüten der verschiedenen Gräser. Sie überlegt, das Experiment im nächsten Jahr auszudehnen.
Als wir weitergehen, bemerke ich einen grob behauenen Granitstein, der aufrecht im Gras steht. Er passt gut in diesen Teil des Gartens. Unten ist ein kleines Schild angebracht „Briony“, es ist ein Gedenkstein für Joannas Schwester, die viel zu früh verstorben ist.



Pam und Joannas Garten ist voller Familiengeschichte. Zwischen Johns Landschaftsbau bepflanzen und pflegen die beiden den Garten gemeinsam. Ich spüre, dass es manchmal Diskussionen über die genaue Vorgehensweise gibt, aber das ist gut so, das hält den Garten lebendig. Dieser Garten ist eine gelungene Kombination ihrer unterschiedlichen Stile und vor allem eine Demonstration von Pam und Joannas gemeinsamer Liebe zu Pflanzen.