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Die Pflege einer Vision

Die Andersartigkeit japanischer Gärten hat etwas mit der Art und Weise zu tun hat, wie sie gepflegt werden.

Vor uns auf dem Boden war ein seltsames Muster. Es sah aus, als hätte es jemand mit geschickter, aber leicht zittriger Hand in den hellen Schotter gemalt. Dunkle, parallele Linien bildeten einen Halbkreis, von wo sie sich bis in die Ferne erstreckten. Wir blieben stehen. Würden wir weitergehen, wäre dieses filigrane Gebilde zerstört. Oder war das etwa beabsichtigt?

Mein Engländer und ich waren erst seit ein paar Tagen in Japan, aber die extreme Rücksichtnahme, mit der sich hier jeder bewegt, war uns bereits überaus bewusst. Wir wollten auf keinen Fall die ignoranten Ausländer sein, die alles einfach zertrampeln. Also blieben wir unschlüssig stehen.

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Würden wir weitergehen, wäre dieses filigrane Gebilde zerstört. Oder war das etwa beabsichtigt?

Wir standen im angenehmen Schatten hoher Kiefern. Seit Sonnenaufgang waren wir heute auf den Beinen, um den Hochgeschwindigkeitszug zu erwischen, der von Kyoto gen Südwesten fuhr. Jetzt waren wir an unserem Ziel, dem Ritsurin-Garten, einem historischen Wandelgarten.

Ein wiederholtes, langgezogenes Geräusch schien näher zu kommen. Dann sahen wir ihn: einen Gärtner, der einen breiten Bambusrechen rhythmisch hin und her bewegte, um eine dünne und fast unsichtbare Schicht Kiefernnadeln vom Weg zu fegen. Er wischte quer durch die Linien auf dem Boden, denn es waren nur Wassertropfen, sorgsam verteilt, um Staubwolken zu vermeiden. Als er sich langsam auf uns zubewegte, hatte ich das Gefühl, Zeugin einer Kunst-Performance zu sein.

Das war der Moment, in dem mir zum ersten Mal bewusst wurde, dass die Andersartigkeit japanischer Gärten etwas mit der Art und Weise zu tun hat, wie sie gepflegt werden.

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Er wischte quer durch die Linien auf dem Boden, denn es waren nur Wassertropfen, sorgsam verteilt um Staubwolken zu vermeiden

In den vielen Gärten, die wir während unserer Reise besuchten, fiel mir auf, dass ein enormer Anteil der täglichen Gartenarbeit auf unterschiedliche Reinigungsarbeiten entfällt. In einem so extrem sauberen Land keine Überraschung. Unerwartet waren jedoch die Methoden, die die Gärtner anwandten. Im berühmten Moostempel Saiho-ji beobachtete ich, wie ein Gärtner frisch gefallene Blätter und andere Pflanzenreste – vielleicht sogar Staub – von einer Moosfläche entfernte. Im subtropischen Klima dieses Teils Japans bedeckt Moos häufig große Flächen und dieser Garten ist bekannt dafür, dass er zahlreiche Moosarten beherbergt.

Der Gärtner hielt einen traditionellen Reisigbesen parallel zum Boden, in etwa so, wie man eine Sense hält. Tief gebeugt, bewegte er den Kopf des Besens blitzschnell im Halbkreis um sich. Seine Bewegungen waren so präzise, dass er die empfindlichen Moospflänzchen nicht berührte, sondern nur einen Luftstrom erzeugte, der gerade stark genug war, die trockenen, abgestorbenen Pflanzenreste sanft über den weichen Moosteppich zu blasen. Es war faszinierend, ihm zuzusehen. Als ich dort stand, dachte ich, wie viel einfacher und schneller es wäre, einen motorbetriebenen Laubbläser zu benutzen. Doch das war hier offensichtlich nicht das Ziel. Ich spürte die starke Verbindung zwischen dem Wert von Handarbeit und dem Wert eines Gartens.

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Im subtropischen Klima dieses Teils Japans bedeckte Moos häufig große Flächen
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Seine Bewegungen waren so präzise, dass er die empfindlichen Moospflänzchen nicht berührte

In der japanischen Gesellschaft scheint es einen Konsens zu geben, dass selbst die einfachste Aufgabe, sofern sie perfekt ausgeführt wird, eine Quelle von Stolz und Anerkennung ist. In Kanazawa im Kenroku-en-Garten fiel mir eine Gruppe von Gärtnerinnen auf. Sie hockten auf einer moosbewachsenen Fläche und unterhielten sich leise, während sie den Boden nach Keimlingen anderer Pflanzenarten absuchten und diese vorsichtig herauszogen. Ihre Bewegungen waren minimal, aber bedächtig und präzise. Trotz der monotonen Einfachheit der Aufgabe waren sie vollkommen konzentriert und schienen sogar Freude an etwas zu haben, was andere wohl als Strafarbeit empfinden würden.

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Trotz der monotonen Einfachheit dieser Aufgabe waren sie vollkommen konzentriert
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Sie suchten den Boden nach Keimlingen anderer Pflanzenarten ab und zogen diese vorsichtig heraus

Komplexere Gartenarbeiten wurden ebenso entspannt und präzise durchgeführt. Am Eingang des historischen Daisen-in-Tempels bemerkte ich einen Gärtner hoch oben in einer Kiefer. „Niwaki“ dachte ich unwillkürlich, denn ich nahm an, dass er dabei war, den Baum nach dieser sehr japanischen Methode zu beschneiden, die auch im Westen immer bekannter wird. Näher betrachtet, schnitt er jedoch keine Äste, sondern entfernte mit spitzen Fingern einzelne Kiefernnadeln. Ganz allmählich wurde so das gesamte Erscheinungsbild des Baumes transparenter. Selbst aus seiner wackeligen Position in der Krone der Kiefer schien der Gärtner genau zu wissen, welche Nadel bleiben und welche entfernt werden musste. Der Gärtner war wie ein Bildhauer, der seine Vision aus einem Marmorblock meißelt, nur dass es hier in Zusammenarbeit mit dem Baum geschah.

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Selbst aus seiner wackeligen Position in der Krone der Kiefer schien der Gärtner genau zu wissen, welche Nadel bleiben und welche entfernt werden musste

Als wir eines Tages in aller Frühe im prächtigen Ginkaku-ji-Tempelgarten in Kyoto ankamen, waren die uniformierten Gärtner gerade bei ihrer morgendlichen Säuberungsroutine. Wie zu erwarten, waren die meisten von ihnen mit Besen ausgerüstet. Einer von ihnen hielt jedoch einen langen Bambusstock in der Hand. Interessiert folgte ich ihm. Während er mit der Spitze des Stocks zwischen den Steinen am Rand des Teichs herumstocherte, sah ich plötzlich, dass er die über Nacht entstandenen Spinnweben auflöste. Wie seltsam, dachte ich.

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Interessiert folgte ich ihm. Während er mit der Spitze des Stocks zwischen den Steinen am Rand des Teichs herumstocherte sah ich plötzlich, dass er die über Nacht entstandenen Spinnweben auflöste.

Immer wieder war ich überrascht, dass japanische Gärtnerinnen und Gärtner offensichtlich einen geheimen Kodex haben, eine gemeinsame Vision, nach der sie ihre Umwelt gestalten. Aber natürlich hatten auch wir im Westen eine solche Vision, eine solche gärtnerische Norm, nur waren wir meist zu sehr in unsere eigene Kultur vertieft, um sie als solche zu erkennen.