Diesen Text gibt es auch auf: English (Englisch)

Sibylles stilvolle Oase

Alles Laub sieht aus, als sei es mit einem sehr feinen Pinsel akribisch gemalt worden.

Für meinen ersten Besuch in Sibylles Garten hätte ich mir keinen ungünstigeren Zeitpunkt aussuchen können. Es war ein unangenehm kalter und regnerischer Tag Anfang März. Der Frühling hatte noch nicht richtig begonnen und der Winter seinen Glanz längst verloren.

Sibylle wohnt in einem Vorort von Düsseldorf, der sich mit seinem charmanten Marktplatz und den ruhigen Straßen eher wie ein Dorf anfühlt. Ihr Garten liegt versteckt hinter einer Reihe stattlicher Altbauten. Das etwa 12 Meter breite Grundstück erstreckt sich über mehr als 40 Meter bis zu einem modernisierten Backsteingebäude, in dem Sibylle mit ihrem Mann lebt. Mit Mauern und Hecken an den Seiten fühlt der Garten sich wie ein Innenhof an.

Als ich im Nieselregen durch den Torbogen gehe, sehe ich Sibylle schon auf mich zukommen. Sie ist in eine dicke Strickjacke gehüllt. Ja, das Wetter ist schrecklich, aber sie will mir eine Führung geben. Es gibt so viel zu zeigen und zu erklären. Langsam gehen wir den Weg entlang, der zwischen den Blumenbeeten zum Haus führt. Ich bemerke die Präzision, mit der die Pflanzen platziert sind – unregelmäßig, aber geordnet. Und alles ist aufgeräumt, kein Unkraut, nicht einmal ein trockenes Blatt.

Sibylles Garden
Langsam gehen wir den Weg entlang, der zwischen den Blumenbeeten zum Haus führt.
Sibylles Garden
Ja, das Wetter ist schrecklich, aber Sibylle will mir eine Führung geben.
Sibylles Garden
Aufgeregt bückt sich Sibylle, um mir eine Elfenblume (Epimedium) zu zeigen, die gerade zu blühen beginnt.

Aufgeregt bückt sich Sibylle, um mir eine Elfenblume (Epimedium) zu zeigen, die gerade zu blühen beginnt. Sie ist so winzig, dass ich beim Versuch, sie zu fotografieren, ewig brauche und am Ende doch nur ein halbscharfes Bild mache. Unter normalen Umständen wäre das nicht besonders bemerkenswert, aber ich besuche eine bekannte Gartenfotografin: Sibylle kreiert wunderschöne Kalender (Website), meist mit Nahaufnahmen von Blüten.

Als der Regen und der Wind schlimmer werden, brechen wir den Rundgang ab und eilen nach drinnen. Doch selbst dieser kurze Eindruck hat einen beeindruckenden Garten enthüllt. Vielleicht war mein Timing doch nicht so schlecht. Zu dieser Jahreszeit, ohne das Sommerlaub der Stauden, bekomme ich einen Blick hinter die Kulissen. Während der Garten vor dem nächsten Akt eine Pause einlegt, sehe ich, dass Sibylle ihn optimal vorbereitet hat. Es gibt eine riesige Vielfalt an Pflanzen, deren Position fein auf die Licht- und Feuchtigkeitsverhältnisse in den verschiedenen Teilen der Parzelle abgestimmt ist. Das zeigt die Hand einer erfahrenen Gärtnerin.

Kurz bevor wir im Haus sind, bemerke ich, dass sich vor dem Metallrahmen eines bodentiefen Fensters drei winzige Alpenveilchen (Cyclamen), Wolfsmilch (Euphorbia) und massenweise Bubikopf (Soleirolia soleirolii) zwischen den Pflastersteinen selbst gesät haben. Es sieht aus wie ein modernes Stillleben und könnte in seiner harmonischen Zufälligkeit nicht besser arrangiert sein. Die Natur darf sich hier also doch frei bewegen – sofern sie es mit Stil tut!

Sibylles Garden
Drei winzige Alpenveilchen (Cyclamen), Wolfsmilch (Euphorbia) und massenweise Bubikopf (Soleirolia soleirolii) haben sich zwischen den Pflastersteinen selbst gesät.
Sibylles Garden
Vielleicht war mein Timing doch nicht so schlecht. Zu dieser Jahreszeit, ohne das Sommerlaub der Stauden, bekomme ich einen Blick hinter die Kulissen.

Wir wärmen uns im großzügigen, offenen Wohnbereich des Hauses auf. Zwei Wände und die Decke des Raums sind verglast und geben den Blick frei auf den Garten. Draußen hatte ich mich auf die Details am Boden konzentriert, hier sehe ich das Gesamtbild. Zum Charakter des Gartens tragen zwei Bäume bei. Eine hohe Kiefer steht prominent in einiger Entfernung. Näher am Haus steht ein Laubbaum, eine Gleditsia. Die Bäume waren schon hier, bevor Sibylle und ihr Mann das Haus umbauen ließen. Die Gleditsia haben sie nur um einige Meter versetzt.

Sibylles Garden
Draußen hatte ich mich auf die Details am Boden konzentriert, hier sehe ich das Gesamtbild.

Mein erster Gedanke ist: Was für eine kühne Entscheidung, die Bäume in einem Garten zu belassen, der bereits viel Schatten von den ihn umgebenden Mauern und Gebäuden erhält. Doch Sibylle weist darauf hin, dass die im Winter blattlose Gleditsia dann nur wenig kostbares Licht wegnimmt, im Sommer dem Haus aber angenehmen Schatten spendet. Ich verstehe, was sie meint. Je länger ich Sibylles Garten anschaue, desto klarer wird mir, dass die Bäume den Raum komplettieren. Sie formen ein visuelles Dach für diesen weiten Gartenraum. In dieser Jahreszeit verleiht besonders die Kiefer dem Garten Höhe und Privatsphäre.

Es gibt noch einen weiteren Garten, den ich mir ansehen muss: das begrünte Dach. Ich folge Sibylle nach oben. Hier hatte sich Allium selbst gesät. Es waren Hunderte und Aberhunderte winzige Pflänzchen auf diesem relativ kleinen Stück und es war unmöglich, sie alle herauszuziehen. Also bepflanzte Sibylle das gesamte Dach neu. Ich sehe verschiedene Sedum-Arten, Thymiane, Gräser, Iris – und viel kahlen Boden. Eine ornamentale weiße Kugel und ein Metallliegestuhl wirken etwas verloren. Sibylle sagt, dass sie und ihr Mann hier im Sommer gern bei einem Drink den Sonnenuntergang genießen. Heute, an diesem düsteren Regentag, kann ich mir das nur schwer vorstellen.

Sibylles Garden
Ich sehe verschiedene Sedum-Arten, Thymiane, Gräser, Iris – und viel kahlen Boden.
Sibylles Garden
Eine ornamentale weiße Kugel und ein Metallliegestuhl wirken etwas verloren.

Bei meinem nächsten Besuch bei Sibylle ist es heiß und sonnig und Ende Juli. Durch den Torbogen betrete ich eine üppig grüne Oase. Die Luft ist angenehm kühl. Die Nachmittagssonne gibt den Blättern goldene Akzente und die Blumenbeete platzen vor Pflanzen. Über allem bildet die Gleditsia mit ihren zarten Blättchen ein fein ziseliertes, halbtransparentes Dach.

Sibylles Garten könnte mühelos die Titelseite eines Lifestyle-Magazins füllen. Sie hat eine fantastisch luxuriöse, harmonisch ausgewogene Szene geschaffen. Hier und da sind Blüten zu sehen, aber Grün ist die vorherrschende Farbe. Von den niedrigen Stauden bis zu den Kletterpflanzen und nicht zuletzt den Blättern der Gleditsia sieht alles Laub aus, als wäre es mit einem sehr feinen Pinsel akribisch genau gemalt worden.

Sibylles Garden
Sibylles Garten könnte problemlos die Titelseite eines Style-Magazins füllen.
Sibylles Garden
Sibylles Garden

Der Garten ist modern mit einem guten Schuss Romantik. Die wird allerdings nicht durch kunstvolle Verwahrlosung erreicht. Jedes Detail ist gepflegt und ausgefeilt. Während ein solches Maß an Kontrolle einen Garten leicht leblos machen kann, verstärkt es hier ein Gefühl von Laissez-faire. Die Pflanzen selbst, ihre Auswahl und sorgfältige Platzierung und Pflege, sorgen für einen angenehmen Hauch von Luxus.

Ein weiterer bestimmender Faktor von Sibylles Garten ist der schiere Überfluss an Pflanzen. Nirgendwo ist kahle Erde zu sehen. Die Beete sind komplett voll. Wir sind uns einig, dass dies in Deutschland selten vorkommt, aber eine Voraussetzung für gute Gartengestaltung ist. Wie Christopher Lloyd schrieb: „Nackter Boden trennt Pflanzen voneinander.“

Selbstkritisch erzählt mir Sibylle, dass sie lieber weniger verschiedene Pflanzen haben würde. Sie meint, das würde das Design prägnanter machen. Ich bin mir da nicht sicher. Durch ständiges Editieren hat sie eine unendlich komplexe Masse verschiedener Texturen zu einer abwechslungsreichen und doch harmonischen Komposition geformt.

Sibylles Garden
Durch ständiges Editieren hat sie eine unendlich komplexe Masse verschiedener Texturen zu einer abwechslungsreichen und doch harmonischen Komposition geformt.
Sibylles Garden
Sibylles Garden
Sibylles Garden
Sibylles Garden
Sibylles Garden
Sibylles Garden
Sibylles Garden
Sibylles Garden

Aber Sibylles Garten ist nicht nur Stil und Schönheit des Ziergartens. Vier Hochbeete in der Mitte ihres großen Blumenbeets sind Obst und Gemüse gewidmet. Während Sibylle eine reife Tomate pflückt, die ich probieren darf, stellen wir fest, dass ein Kürbis, den sie auf den Kompost gepflanzt hat, so kräftig gewachsen ist, dass er jetzt bis in den Garten des Nachbarn reicht. An anderer Stelle wachsen Seerosen in einem Zinkkübel, und in einem weiteren Teil des Gartens hat sie begonnen, Duftpelagonien zu sammeln.

Sibylles Garden
Vier Hochbeete in der Mitte ihres großen Blumenbeets sind Obst und Gemüse gewidmet.
Sibylles Garden
Sibylle hat begonnen, erlesene Geranien zu sammeln.

Die Sonne ist dabei, hinter den größeren Gebäuden zu verschwinden. Sibylle reicht mir schnell ein kaltes Getränk und ich folge ihr aufs Dach. Nichts erinnert mehr an die kahle Fläche von vor ein paar Monaten. Der Trockengarten hat sich zu einer wunderbaren kleinen Landschaft entwickelt. Ein weites Spektrum von Pflanzen bedeckt das Dach nun vollständig. Zusätzlich zu denen, die ich im März hier sah, entdecke ich Nelken, Wolfsmilch und Fenchel, um nur einige zu nennen. Während wir uns unterhalten und den Sonnenuntergang genießen, klettert Sibylle über das Dach und zieht kleine Sedum-Pflanzen heraus. Sie mag es nicht, wenn sich verschiedenfarbige Sedum-Arten vermischen. Das ist ihre Art zu gärtnern, eine Balance zwischen Pflege und Kontrolle, die auf umfangreichem Pflanzenwissen und einem unfehlbaren Sinn für Stil beruht.

Sibylles Garden
Der Trockengarten hat sich zu einer wunderbaren kleinen Landschaft entwickelt.
Sibylles Garden
Während wir uns unterhalten und den Sonnenuntergang genießen klettert Sibylle über das Dach und zieht kleine Sedum-Pflanzen heraus.
Sibylles Garden
Sibylle mag es nicht, wenn sich verschiedenfarbige Sedum-Arten vermischen.
Sibylles Garden
Zusätzlich zu den Pflanzen, die ich im März hier sah, entdecke ich Nelken, Wolfsmilch und Fenchel, um nur einige zu nennen.
Sibylles Garden
Nichts erinnert mehr an die kahle Fläche von vor ein paar Monaten.

Sibylle hat Pflanzen schon immer geliebt, während ihre Familie andere Interessen hat. Als die Kinder klein waren und sie gemeinsam in Urlaub fuhren, schaute sie sich die großartigen Gärten der Welt alleine an, während Mann und Kinder geduldig im Auto warteten. Dieser wunderbare Raum zum Gärtnern hier zu Hause ist allerdings mehr als ein Trost. Über die Jahre hat Sibylle viele ihrer Gartenträume verwirklichen können.

Als sie vor einigen Jahren einen Teil des Gartens neu bepflanzte und eine Menge Pflanzen übrig hatte, schwappte Sibylles Gartenbegeisterung bis auf die andere Straßenseite. Sie fragte die Stadtverwaltung, ob sie einen vernachlässigten Grünstreifen vor der örtlichen Schule bepflanzen könne. Man war natürlich begeistert. Vor kurzem hat Sibylle zusätzlich mehrere Blumenbeete rund um die Kirche angelegt.

Sibylles Garden
Als sie vor einigen Jahren einen Teil des Gartens neu bepflanzte und eine Menge Pflanzen übrig hatte, schwappte Sibylles Gartenbegeisterung bis auf die andere Straßenseite.
Sibylles Garden
Sie fragte die Stadtverwaltung, ob sie einen vernachlässigten Grünstreifen vor der örtlichen Schule bepflanzen könne. Man war natürlich begeistert.
Sibylles Garden
Vor kurzem hat Sibylle zusätzlich mehrere Blumenbeete rund um die Kirche angelegt.
Sibylles Garden
Das Blumenbeet hinter der Kirche

Es ist schön zu sehen, wie Sibylle mit ihrem gärtnerischen Wissen und ihrem Sinn für Stil die ungeliebten Bereiche um öffentliche Gebäude verschönert. Genau wie zu Hause vergisst sie auch hier nie die praktische Seite. Wenn niemand da ist, um die Blumenbeete zu gießen, geht sie hin und macht es selbst. Bevor ich mich verabschiede, empfiehlt Sibylle mir ein Buch über Guerilla-Gärtnern. Ich bin gespannt, wohin ihre Gartenbegeisterung Sibylle als Nächstes führen wird.